Vom Glauben zur Vernunft (18. September 2024
mrw
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Atheismus in der Schweiz

Die Zurückdrängung von Gott, Religion und dem Christentum durch Philosophie und Wissenschaft ist eine Geschichte des allmählichen Wandels von einer metaphysischen hin zu einer naturalistischen Sicht auf die Welt. Sie beginnt im Mittelalter, als das christliche Weltbild von der Scholastik dominiert wurde, und reicht bis in die Gegenwart, in der Wissenschaftler wie Lawrence Krauss und Stephen Hawking die Grenzen unserer Erkenntnis über das Universum verschoben haben.

Thomas von Aquin und das mittelalterliche Weltbild

Im 13. Jahrhundert prägte der Theologe Thomas von Aquin das christliche Weltbild massgeblich. Er verband das aristotelische Denken mit dem christlichen Glauben und schuf damit eine Synthese von Glaube und Vernunft. Für ihn war die Welt göttlich geordnet, und alles Sein und Wissen entsprang letztlich Gott. Die Existenz Gottes war für ihn logisch beweisbar – etwa durch den sogenannten „kosmologischen Gottesbeweis“, der behauptet, dass alles, was existiert, eine Ursache haben müsse und dass diese erste Ursache Gott sei.

Thomas von Aquins Theologie war lange Zeit der intellektuelle Grundpfeiler der Kirche. Die Welt war von Gott erschaffen, der Mensch befand sich in einer hierarchisch geordneten Schöpfung, in der jedes Wesen seine feste Rolle hatte. Vernunft und Glauben ergänzten sich, doch die Vernunft hatte immer ihre Grenze im göttlichen Mysterium. Der Mensch war in seiner Erkenntnisfähigkeit begrenzt, weil Gott als der unbewegte Beweger jenseits des menschlichen Verstandes lag.

Dieses theozentrische Weltbild dominierte das Mittelalter, aber es stand unter ständiger Spannung mit dem aufkeimenden Bedürfnis, die Welt durch die Sinne und die Vernunft unabhängig von göttlichen Erklärungen zu verstehen. Diese Spannung war der Keim für das, was später in der Aufklärung und durch die wissenschaftliche Revolution zur Säkularisierung führen sollte.

Die wissenschaftliche Revolution und die erste Entzauberung der Welt

Mit der Renaissance und der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts begann der langsame Zerfall der Vorstellung, dass die Welt durch göttliche Ordnung allein erklärt werden könne. Nicolaus Kopernikus, Galileo Galilei und Johannes Kepler revolutionierten das Verständnis des Universums. Das geozentrische Weltbild, das die Erde als Zentrum der Schöpfung betrachtete, wurde durch das heliozentrische Modell ersetzt. Der Mensch war nicht länger der Mittelpunkt des Universums – ein Schlag für das theologische Selbstverständnis des Mittelalters.

Isaac Newton führte diese Entzauberung der Welt weiter. Seine mechanistische Beschreibung des Universums zeigte, dass die Bewegungen der Planeten, die zuvor als Ausdruck göttlichen Wirkens galten, durch mathematische Gesetze erklärt werden konnten. Die Natur wurde als ein System verstanden, das durch unveränderliche physikalische Gesetze regiert wird, und Gott wurde zunehmend aus dieser Beschreibung verdrängt. Zwar blieb Newton selbst gläubig und sah Gott als den Schöpfer dieser Gesetze, aber die Tür war nun offen für ein Weltbild, in dem Gott keine Rolle mehr spielen musste.

Die Aufklärung und die Philosophie des Atheismus

Die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts beschleunigte diesen Prozess. Philosophen wie Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant argumentierten, dass der Mensch in der Lage sei, moralische und intellektuelle Autonomie zu erreichen, ohne auf göttliche Offenbarung angewiesen zu sein. David Hume ging sogar noch weiter und stellte die Gültigkeit der klassischen Gottesbeweise infrage. Hume sah in der Welt keinen zwingenden Grund für die Existenz eines Gottes. Er argumentierte, dass das Konzept von Kausalität, auf das sich die theologischen Beweise stützten, keine absolute Notwendigkeit sei und dass die Ordnung der Welt auch durch natürliche Ursachen erklärt werden könne.

Kant setzte den nächsten Schlag gegen die religiösen Autoritäten, indem er erklärte, dass der Mensch die Welt nur durch seine eigene Vernunft verstehen könne. Moralische Prinzipien wie der kategorische Imperativ waren für ihn durch die Vernunft begründbar und benötigten keine göttliche Legitimation. Das Universum war ein Reich der Naturgesetze, und der Mensch hatte die Fähigkeit, es zu verstehen – eine Vorstellung, die den Glauben an einen transzendenten Gott als überflüssig erscheinen liess.

Darwin und die Biologie als Herausforderung

Die vielleicht gravierendste Herausforderung für das religiöse Weltbild kam im 19. Jahrhundert mit Charles Darwin und seiner Evolutionstheorie. Darwins „Über die Entstehung der Arten“ (1859) lieferte eine natürliche Erklärung für die Vielfalt des Lebens, die keinen göttlichen Schöpfer voraussetzte. Der Mensch war nicht mehr das Produkt eines göttlichen Plans, sondern das Ergebnis eines langen und blinden Prozesses der natürlichen Selektion. Der Zufall und die Anpassung an die Umwelt erklärten die Entstehung des Lebens, was die biblische Schöpfungsgeschichte endgültig entwertete.

Für viele war dies der endgültige Beweis dafür, dass die Religion keine tragfähige Erklärung für die Existenz der Welt und des Lebens lieferte. Mit Darwin war die Naturwissenschaft in der Lage, Antworten auf Fragen zu geben, die traditionell dem religiösen Bereich vorbehalten waren.

Einstein, Quantenmechanik und die Relativierung des Religiösen

Albert Einstein stellte im 20. Jahrhundert eine noch tiefere philosophische Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Religion. Er war kein Atheist im strengen Sinne, lehnte jedoch die Vorstellung eines persönlichen Gottes ab, der aktiv in die Welt eingreift. Für Einstein war Religion vielmehr eine „kosmische Ehrfurcht“ – die Bewunderung der Schönheit und Komplexität des Universums. In seinen Augen waren die Wissenschaftler die wahren Priester, da sie sich bemühten, die tiefen Geheimnisse der Realität zu entschlüsseln, ohne dabei auf übernatürliche Erklärungen zurückzugreifen.

Einsteins Relativitätstheorie und die darauf folgende Entwicklung der Quantenmechanik durch Physiker wie Niels Bohr und Werner Heisenberg erschütterten das mechanistische Weltbild Newtons und zeigten, dass die Natur auf fundamentaler Ebene viel komplizierter war, als man bisher angenommen hatte. Doch anstatt Raum für religiöse Antworten zu schaffen, öffneten diese Entdeckungen die Tür für eine noch tiefere und demütigere Form des Atheismus: Das Universum war nicht nur erklärbar, sondern auch voller Ungewissheiten, die weder durch göttliche noch durch absolute rationale Prinzipien erklärt werden konnten. Die Quantenmechanik zeigte, dass die Welt auf einer tiefen Ebene probabilistisch und unbestimmt ist – eine Erkenntnis, die das theologische Bedürfnis nach einem allwissenden Schöpfer endgültig in Frage stellte.

Stephen Hawking und das Universum ohne Gott

Stephen Hawking setzte diesen Trend fort und vertrat die Ansicht, dass das Universum aus sich selbst heraus existiert und keinen Schöpfer benötige. In seinem Werk „Der grosse Entwurf“ (2010) argumentierte er, dass das Universum nach den Gesetzen der Physik aus dem Nichts entstehen konnte. Hawking führte den Gedanken weiter, dass die Wissenschaft in der Lage sei, alle Fragen zu beantworten, die die Menschheit zuvor der Religion überlassen hatte – einschliesslich der Frage nach dem Ursprung des Universums. In seinem Modell war Gott nicht nur unnötig, sondern auch irrelevant.

Lawrence Krauss und das Universum aus dem Nichts

Lawrence Krauss, ein moderner Physiker und Kosmologe, radikalisierte diese Position weiter. In seinem Buch „Ein Universum aus dem Nichts“ (2012) argumentiert er, dass das Universum buchstäblich aus dem Nichts entstehen konnte – ohne die Notwendigkeit eines Schöpfers. Krauss beschreibt, wie die Gesetze der Quantenphysik erlauben, dass Teilchen spontan entstehen und verschwinden, und dass dieses Phänomen auf kosmologischer Ebene das Entstehen des Universums erklären kann. Für Krauss ist der Glaube an Gott nur noch ein Relikt aus einer Zeit, in der die Menschen die Naturgesetze noch nicht vollständig verstanden hatten.

Fazit

Die Entwicklung vom theozentrischen Weltbild des Mittelalters hin zu einem naturalistischen und säkularen Weltbild ist geprägt durch die zunehmende Entzauberung der Welt. Religion, die einst die Erklärung für das Universum und den Platz des Menschen darin lieferte, wurde Stück für Stück durch die Wissenschaft verdrängt. Jeder neue wissenschaftliche Fortschritt zeigte, dass die Natur nicht durch übernatürliche Kräfte gesteuert wird, sondern durch Gesetzmässigkeiten, die der menschliche Verstand begreifen kann.

Von Thomas von Aquin bis zu Lawrence Krauss ist dies eine Geschichte der Befreiung des menschlichen Geistes. Ein Atheist würde diese Entwicklung als einen grossen Fortschritt feiern – eine Reise vom Aberglauben hin zur Vernunft, vom metaphysischen Dogma hin zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Wissenschaft hat den Platz eingenommen, den einst die Religion innehatte, und bietet heute eine weitaus umfassendere und präzisere Erklärung der Welt, in der wir leben.

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